Am 29. Mai standen sich Jorginho und John Stones noch im Champions-League-Finale gegenüber. Keine 2 Wochen später startete die Euro 2020, welche mit dem Endspiel zwischen Italien und England endete. Ebenfalls wieder mit von der Partie – John Stones und Jorginho.
Diese beiden Akteure hatten eine lange und sehr intensive Fussballzeit hinter sich. Aber nicht nur der englische Innenverteidiger und der Mittelfeldstratege der Squadra Azzurra haben eine enorme Belastung hinter sich. Dies gilt auch für den Großteil aller anderen Spieler der EM 2020 – Eine Saison im Vereinsfußball, die aufgrund von Corona sehr eng getaktet war. Eine verdammt kurze Pause. Und dann die aufgeschobene Europameisterschaft, welche zum zweiten Mal mit 24 statt 16 Teams stattfand.
Meine persönliche Erwartung an die Euro 2020
Folglich war meine Erwartungshaltung für die Euro 2020 auch nicht sonderlich groß. Zu kurz erschien mir die Pause und zu kräftezehrend die letzte Spielzeit, so dass ich nicht das ganz große Spektakel erwartete.
Doch die beteiligten Nationalmannschaften belehrten mich, zumindest teilweise, eines Besseren. Das Turnier war mit 142 Toren sehr torreich – das sind in 51 Begegnungen 2,79 Tore je Spiel.
Euro 2020
- Spiele: 51
- Tore: 142
- Tore pro Spiel: 2,79
- Anteil der Tore nach Standards: 24 %
- Anteil der Tore nach Flanken: 29 %
- Teams mit den meisten Tore: Italien und Spanien – 13
- besten Torschützen: Ronaldo (Portugal) und Schick Tschechien) – 5
- meisten Torvorlagen: Zuber (Schweiz) – 4
Quelle: https://de.uefa.com/uefaeuro-2020/statistics/
Euro 2004 bis 2020
- 2020: 2,79 Tore je Spiel
- 2016: 2,12 Tore je Spiel
- 2012: 2,45 Tore je Spiel
- 2008: 2,48 Tore je Spiel
- 2004: 2,48 Tore je Spiel
Warum fielen so viele Treffer?
Die Ausgangsbedingungen sprachen eigentlich nicht für viel überdurchschnittlich viele Treffer bei der Euro 2020. Die hohe Belastung und auch die geringe Anzahl der Tore an Standards, das häufige Verteidigen mit einem tiefen, kompakten Block sowie der starke Fokus auf Konterabsicherung lassen eine eher geringe Trefferquote vermuten.
Aber die Teams fanden ganz offensichtlich trotzdem Lösungen um den Ball im Tor unterzubringen, sonst wären wohl keine 2,79 Treffer je Spiel gefallen. Auf dem Weg zum Tor waren einige Regelmäßigkeiten zu beobachten, welche auch neue Entwicklungen im Spiel mit Ball offenlegen. Diese taktischen Trends im Offensivspiel möchte ich mit euch genauer unter die Lupe nehmen.
Aufbauspiel mit Dreierkette
Das Agieren mit 3 Spielern in der ersten Aufbaulinie ist keine ganz neue Entwicklung aber ein Trend der sich immer weiter durchsetzt. In den vergangenen Jahren war vor allem Antonio Conte für den Spielaufbau mit 3 Innenverteidigern bekannt – sowohl bei Juventus Turin als auch bei Chelsea London setzte er auf Systeme mit 3 Aufbauspielern. In der vergangenen Saison machte dann besonders Thomas Tuchel mit 3 Spielern in der ersten Linie auf sich aufmerksam und gewann im 3-4-2-1 das bereits erwähnte Champions-League-Finale.
In der Euro 2020 hat sich dieser Trend dann nochmal deutlich verstärkt. Neben Deutschland setzten in der Gruppenphase gleich 12 weitere Team teilweise oder auch dauerhaft auf 3 Spieler in der ersten Aufbaulinie.

Im ersten Gruppenspiel der DfB-Elf bildeten Ginter, Hummels und Rüdiger die erste Aufbaulinie
Gründe für die 3 Spieler in der ersten Linie:
- bessere Konterabsicherung – Teams mit 3 Innenverteidigern sind bei Ballverlusten im Aufbauspiel besser abgesichert
- Herstellen einer Überzahl in der ersten Linie – agiert der Gegner mit 2 Spitzen, kann mit 3 Innenverteidigern leichter ins Mittelfeld angedribbelt werden oder eine Linie überspielt werden.
- Kompakter im Zentrum – Bei Systemen mit 3 Aufbau Spielern ist die Außenbahn in aller Regel nur einfach besetzt, wodurch das Zentrum und die Halbräume besser abgesichert ist.
- Breite Staffelung der beiden Halbraum Verteidiger – die breite Positionierung der Halbraumverteidiger zieht den Gegner weiter auseinander und öffnet somit Räume. Außerdem hilft die Staffelung, um sich besser aus Pressingsituationen zu befreien.
Bildung der 3er-Kette
In aller Regel fand der Aufbau mit 3 Spielern in Kombination mit einer 5er-Kette gegen den Ball statt. Sobald ein Team mit 5 Verteidigern in Ballbesitz kam, schoben die beiden äußeren Spieler sehr weit hoch – entweder ins Mittelfeld oder teilweise auch bis auf die letzte Linie.

In der Begegnungen gegen Russland spielen die Belgier mit einer 5er-Kette bei gegnerischen Ballbesitz. In der Spielsituation führt ein Freistoß der russischen Auswahl zu einem Ballbesitzwechsel.

Wenige Sekunden nachdem Belgien in Ballbesitz gekommen ist, sind die beiden Außenbahnspieler nach vorne geschoben und die 3 Innenverteidiger gestalteten den Spielaufbau.
Asymmetrien im Spielsystem
Jedoch fand der Spielaufbau mit 3 Innenverteidigern nicht immer in Kombination mit einer 5er-Kette statt. Italien und England spielten bei gegnerischem Ballbesitz häufig mit einer Viererkette, bauten das Spiel aber trotzdem mit 3 Spielern in der ersten Linie auf.
Dafür kam ein Asymmetrie im Spielsystem zum Einsatz. Sowohl bei den „Three Lions“ als auch bei der Mannschaft des Europameisters schob ein Außenverteidiger nach Balleroberungen sehr weit hoch und der andere Außenverteidiger bildete mit den beiden Innenverteidigern die erste Aufbaulinie.

Bei Ballbesitz der Türkei agierte Italien mit einer Viererkette. Auf der linke Seite verteidigte Spinazzola. Auf der Gegenseite spielte Rechtsverteidiger Florenzi.

Sobald die Mannschaft von Roberto Mancini den Ball in den eigenen Reihen hatte, bildete Florenzi zusammen mit den Innenverteidigern Bonucci und Chiellini die erste Aufbaulinie. Linksverteidiger Spinazzola schob dagegen nach vorne.
Spiel im letzten Drittel
Nachdem wir den Blick bisher nur auf das Aufbauspiel gerichtet haben, wollen wir uns jetzt dem Spiel im letzten Drittel widmen.
Dabei werfen wir einen genaueren Blick auf das Flankenspiel, die Bedeutung von Dribblings und das Anwenden von Überladungen bei der Europameisterschaft.
Viele Tore nach Flanken
Da einige Teams bei der Euro 2020 in einem sehr tiefen, kompakten Block agierten und den Fokus sehr stark auf die Sicherung des Zentrums lagen, wurde das Flügelspiel fast zwangsläufig in den Fokus gerückt. Dies führte dazu, dass 29 % der Treffer nach Flanken fielen.
- Viele Eigentore fielen nach Hereingaben
- Oftmals wurden Flanken scharf und flach gespielt
- Die Hereingaben wurden oftmals direkt nach einer Verlagerung gespielt.
- Häufig waren die ballfernen Außenverteidiger (Gosens, Shaw oder Dumfries) der Zielspieler am 2. Pfosten
- Es wurden bevorzugt Flanken aus kurzer Distanz oder den Halbräumen gespielt. Flanken aus sehr breiten Positionierungen wurden dagegen eher gemieden.

Die ersten 3 Punkte stehen in einem starken Zusammenhang. Durch das Durchführen von Verlagerungen müssen die Verteidiger abdrehen aber auch zeitgleich ihre Gegenspieler im Blick behalten. Das kann unter Umständen auch mal zu kurzen Orientierungsschwierigkeiten führen. Kommt unmittelbar im Anschluss an die Verlagerung dann eine scharfe, direkte Hereingabe, ist es schnell passiert – der Verteidiger hat den Ball über die eigene Linie gedrückt.

In der Begegnung Portugal verlagert Kimmich das Spiel mit einem Flugball auf den ballfernen Außenbahnspieler Gosens.

Gosens spielt den Ball sehr direkt, scharf und halbhoch vors Tor. Rúben Dias möchte die scharfe Hereingabe blocken, bringt den Ball dabei aber im eigenen Tor unter.
Überladungen
Neben den Flanken wurden auch Überladungen eingesetzt, um eine Antwort auf die kompakten Abwehr Blöcke zu haben. Einige Teams kreierten in bestimmten Räumen immer wieder gezielt numerische Vorteile.
Welchen Nutzen haben Überladungen?
- Überladung in der Nähe des Balles herstellen, um eine Überzahl zu kreieren und auszuspielen
- Überladung in einem ballfernen Raum herstellen, um den Ball dorthin zu verlagern
- Überladung in der Nähe des Balles herstellen, um günstige Ausgangsbedingungen für ein Gegenpressing zu haben
- Überladung in einem Raum/benachbarten Raum herstellen, welcher gezielt (mit-)bespielt wird. Erhöht Chancen auf die Eroberung des 2. Balles (beispielsweise Überladung des Rückraums bei Flanken, um geklärte Bälle zu erobern)
- Überladung einer bestimmten Seite, um Gegenspieler zu binden und damit Raum für einen Zielspieler auf der ballfernen Seite zu schaffen
Italien überlädt die linke Seite
In dem ersten Spiel der Euro 2020 spielte Italien gegen die Türkei. In dieser Begegnung überlud der spätere Europameister gelegentlich die linke Seite. Vermutlich zielte dieser Schachzug von Mancini vor allem auf 2 Optionen ab – eine Überzahl auf Links herstellen und diese ausspielen oder Raum für Barella kreieren und diesen mit einem diagonalen Zuspiel bedienen.

In dieser Spielsituation überlud Italien die linke Seite. Barella hat im rechten Halbraum viel Platz.
Dribbelstarke Spieler als ein entscheidender Faktor
Wie bereits erwähnt spielten viele Mannschaft in einem kompakten Block, welcher teilweise schwer zu überwinden war. Aber nicht immer muss die Antwort auf ein solches Abwehrbollwerk ein komplexes taktisches Mittel oder ein Kombinationsspiel über Unmengen an Stationen sein.
Viele Teams konnten auch auf eine simplere Lösungen zurückgreifen – zumindest dann, wenn sie herausragende Dribbler in den eigenen Reihen hatten.
Das ist die EURO der Dribblings.
Fabio Capello
Zwei sehr gute Beispiele für diese dribbelstarken Spieler bei der Euro 2020 waren Raheem Sterling und Federico Chiesa. Den beiden Spielern gelang es mit Hilfe von Dribblings immer wieder für Unordnung beim Gegner zu sorgen oder Gegenspieler zu binden, um Raum für Mitspieler zu schaffen.
Erfolgreiche Dribblings bei der Euro 2020
- Raheem Sterling (England) 22
- Federico Chiesa (Italien) 15
- Martin Braithwaite (Dänemark) 13
- Andriy Yarmolenko (Ukraine) 11
- Kylian Mbappé (Frankreich) 10